„Arbeiten in der digitalen Welt“ – Zwei Ministerien, ein Kongress. Doch wo blieb der Mittelstand?

„Arbeiten in der digitalen Welt“ – Zwei Ministerien, ein Kongress. Doch wo blieb der Mittelstand?

Digitalisierung ist ein interdisziplinäres Thema. Dieser Tatsache sollte am 28.01.2016 der gemeinsame Kongress „Arbeiten in der digitalen Welt – Mensch – Organisation – Technik“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sicher gerecht werden. Leider begann der Auftakt der Veranstaltung für die Teilnehmer mit zwei Enttäuschungen:

  • Die Organisation des physikalischen Einlasses war trotz vorheriger digitaler Anmeldung den über 200 Teilnehmern nicht gewachsen.
  • Beide Bundesminister – Andrea Nahles und Sigmar Gabriel – ließen sich entschuldigen. Sie hatten wichtigere Termine.

Somit startete die erste Keynote deutlich verspätet, noch bevor alle Teilnehmer den Saal erreichen konnten. Brigitte Zypries schaffte es jedoch, Herrn Gabriel gut zu vertreten. Ich habe ihn jedenfalls nicht vermisst. Die Keynote von Frau Zypries fand ich insgesamt eine sehr gute Zusammenfassung der aktuellen Situation, wenn auch die üblichen Statements nicht fehlen durften:

  • die Industrie ist der Garant für unseren Wohlstand,
  • die Industrie, das sind nicht nur die Unternehmen, es geht um ein sozialpartnerschaftliches System
  • der internationale Erfolg unserer Industrie beruht auf der hohen Produktivität und Qualität der deutschen Industrie, was auch in der digitalen Welt so bleiben soll.

Alles schön und gut und auch erwähnenswert. Aber halt nicht neu.

Neu war – zumindest für mich – die Zielsetzung abgewanderte Wirtschaftsbereiche wie Textil, Schuhe, Konsumgüter wieder zurück nach Deutschland zu holen. Frau Zypries erwähnte das Forschungsprojekt Speedfactory, in dem die Produktion von Sportschuhen aus Asien wieder nach Deutschland verlagert werden soll. Über die von den Promotern von Industrie 4.0 immer wieder propagierte „Losgröße 1“ will man sehr flexibel produzieren und der Kunden soll eng in die Produktion mit einbezogen werden. Neue Ideen sollen schnell in den Markt gebracht werden und man will zeitnah von den Kunden erfahren, was ihre Ansprüche und Wünsche an das Produkt sind. Eine interessante Zielsetzung, da auch in den Billiglohnländern die Kosten steigen und die Koordination hoher Qualität physikalischer Produkte weiter eine Herausforderung ist.

Das BMWi erwartet sich von Industrie 4.0 Mehrwerte von über 30 Mrd. Euro pro Jahr. 80% der Industrieunternehmen sagen, dass sie bis 2020 ihre komplette Wertschöpfungskette digitalisieren, was laut der Studie Industrie 4.0 von PWC mit Investitionen von 40 Mrd. Euro pro Jahr verbunden ist.

Frau Zypries wies als einzige der Redner auf eine nach meiner Meinung enorm wichtige Frage hin: Wie nimmt man den Mittelstand mit? Während die großen Unternehmen schon recht gut wissen, was sie tun müssen, stehe der Mittelstand relativ ratlos da. Erste (kleine) Initiativen seien gestartet. So gibt es eine Landkarte Industrie 4.0, auf der man Anwendungsbeispiele für Industrie 4.0 finden kann. Diese Unternehmen darf man auch kontaktieren und besuchen. Auf der Landkarte finden sich weiterhin regionale Fach- und Kompetenzzentren zu Industrie 4.0. Ein Service, der sicher nützlich für den Mittelstand ist. Nach meiner Wahrnehmung ist dieses Angebot dort aber noch nicht angekommen. Vielleicht sind hier die Verbände gefragt.

Im nächsten Vortrag stellte Eberhardt Veith, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Festo AG und Mitinitiator der Plattform Industrie 4.0 seine „8W Strategie“ vor. Man spürte sein Engagement und seine Faszination für Industrie 4.0. Nach meiner Ansicht waren seine Ausführungen aber zu abstrakt und zu weit weg von der Situation, in der sich die meisten mittelständischen Unternehmen im Moment befinden. Also keine wirkliche Hilfe bei der Frage: Was machen wir jetzt?

Die übrigen Vorträge waren nach meinem Empfinden zu akademisch. Kennzeichnend für die gesamte Veranstaltung war das betretene Schweigen, als der Moderator in Talkrunde 1 das Podium nach der Sicht der Kunden fragte. Diese Frage einer Runde von Akademikern aus Forschung und Instituten zu stellen war äußerst ungeschickt. Und hier sind wir bei einem wirklichen Schwachpunkt der Konferenz angelangt: dem Moderator Thomas Ramge vom Brand Eins. Ich bin Fan von Brand Eins und bin vielleicht gerade deshalb so enttäuscht. Herr Ramge schaffte es nicht, die Gespräche wirklich zu führen und interessanten Ansichten nachzugehen. Seine Interventionen führten meist zu fragenden Gesichtern nach dem Motto: Was wollen Sie eigentlich von mir wissen? Ganz abgesehen von seinem unprofessionellen Hinweis auf „mädchenhaftes Mitschreiben“. Diesen Fauxpas ließ ihn Frau Prof. Lanza ausreichend bereuen. Frau Prof. Lanza brachte nicht nur die interessantesten Perspektiven in die Talkrunde 1 ein, sie trug auch wesentlich zum Unterhaltungswert bei.

Der Beitrag von Jörg Hofmann als Vertreter der IG Metall machte mir deutlich, dass bei den Gewerkschaften noch nicht wirklich angekommen ist, vor welchen gravierenden Veränderungen wir stehen. Bei mir verblieb der Eindruck, dass zumindest die IG Metall noch einige Hausaufgaben machen muss, um dieses Thema wirklich konstruktiv in eine Richtung zu lenken. Gewerkschaften sind nicht ausschließlich dafür da, bestehende Errungenschaften zu wahren. Sie müssen mitwirken, diese konstruktiv in die „digitale Welt“ zu transformieren und die sich auftuenden Chancen für die Arbeitnehmerschaft aktiv zu nutzen. Hier gilt es, sich von altem Denken zu lösen, die alten Werte aber zu wahren. Vernetzt denken ist nun mal nicht jedermanns Sache, besonders nicht, wenn es um die eigenen Pfründe geht. Ich habe meine Zweifel, ob alle Gewerkschafter in der Lage sind, die anstehenden Veränderungsprozesse mitzugehen. Vielleicht ist es Zeit für eine neue Generation?

Mein Fazit

Die Idee einer gemeinsamen Konferenz zweier Ministerien finde ich toll. Intelligente Vernetzung ist gefragt! Es ist höchste Zeit, dieses Schlagwort nicht nur in jeder Rede zu verwenden, sondern wirklich vernetzt die für unsere Gesellschaft so wichtigen Themen anzugehen. Denn wir stehen vor Veränderungen, denen wir uns nicht entziehen können. Wir müssen diese gestalten! Und das am besten übergreifend und interdisziplinär. Die Politik darf nicht nur Interdisziplinarität von den Arbeitnehmern und der Industrie verlangen, sie muss sie auch selber leben. Nach Aussage einiger Ministeriumsmitarbeiter, mit denen ich mich beim Kaffee unterhalten habe, sind wir davon noch weit entfernt. Es gäbe kaum Zusammenarbeit zwischen den Ministerien, zumindest beim Thema Digitalisierung. Die Konferenz sei bisher die einzige Initiative. Ansonsten grenzt jedes Ressort seine Zuständigkeiten streng ab. Da ist die Wirtschaft doch schon weiter, obwohl es auch hier noch viel zu tun gibt. Wenn die Politik den anstehenden gesellschaftlichen Prozess der Digitalisierung mit steuern möchte, muss sie auch selbstkritisch das eigenen Tun betrachten und bereit sein, sich selbst zu verändern.

Die Themenauswahl der Konferenz war mir zu eng. Es ging fast nur um Industrie- und Fabrikarbeitsplätze. Diese seien durch die Automatisierung bedroht. Die Digitalisierung würde nicht mehr nur in den Büros stattfinden, sondern in die Fabrikhallen gelangen. Von den „weißen Kragen“ zu den „grauen Kragen“. Auf dem Cloud Unternehmertag 2016 in Bonn wurde eine ganz andere Entwicklungsrichtung dargestellt: die Automatisierung, die in den Fabriken bereits weit fortgeschritten ist, würde jetzt auch die Büros erreichen. Ich hoffe, hier hat das BMWi genügend Weitblick und schaut nicht nur auf Industrie 4.0 (denn damit ist ja eigentlich nur das Internet der Dinge gemeint, also nur ein technisches Vehikel). Auch in vielen anderen Bereichen wie z.B. Handel, Kundenservice, Sachbearbeitung oder Finanzen, zeichnen sich enorme Veränderungen ab, die die Arbeitswelt auf den Kopf stellen werden.

Trotz dieser Kritikpunkte habe ich es nicht bereut, mir die Zeit für die Konferenz genommen zu haben. Im Gegenteil: ich wünsche mir weitere solche „interministeriale“ Konferenzen. Denn die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind auch „interministerial“. Das Denken in Ressorts muss hinten anstehen. Deshalb bitte mehr solche gemeinsamen Veranstaltungen und ein bisschen mehr Menschen aus den Unternehmen mit einbeziehen und zu Wort kommen lassen: Unternehmer, Führungskräfte und Arbeitnehmer. Bitte etwas weniger Forschung. Die Vertreter der Forschung sprechen zwar gerne vor großem Auditorium und ihre Ergebnisse sind auch sehr interessant. Aber vor den richtigen Antworten der Wissenschaft sollte man sich den Fragen widmen, die die Mehrzahl der Menschen bewegt. Und diese findet man im Mittelstand.

Die Konferenz wurde digital aufgezeichnet. Die Streams finden Sie hier: http://www.bmwi.de/DE/Service/veranstaltungen,did=743794.html